Die Erwartungen an Künstliche Intelligenz im Bildungswesen sind hoch. KI-Experte Niels Pinkwart erklärt, warum das teilweise berechtigt ist – und warum wir ChatGPT und Co. bald für selbstverständlich halten werden. Ein Interview von Vincent Hochhausen (Bildungspraxis).
Bildungspraxis: Was unterscheidet Künstliche Intelligenz von anderen Programmen?
Niels Pinkwart: Diese Frage höre ich oft, denn es gibt viele Definitionen für KI. Häufig beziehen sie sich auf eine Art Menschenähnlichkeit, also auf die Simulation menschlichen Verhaltens oder menschlicher Fähigkeiten wie Entscheiden, Analysieren oder Wahrnehmen. Die Definition der derzeit geplanten KI-Grundverordnung der Europäischen Union ist aber sinnvoller: Sie definiert KI als Software, die im Hinblick auf vom Menschen festgelegte Ziele Inhalte, Empfehlungen, Vorhersagen oder Entscheidungen erstellen, die ihr jeweiliges Umfeld beeinflussen. Diese Software wird mit algorithmischen Verfahren wie maschinellem Lernen, Wissenpräsentation oder statistischen Ansätzen programmiert. Das zu nutzen ist in vielen Lebensbereichen längst Realität. Aber weil KI-Technologie sich alle paar Jahre sprunghaft weiterentwickelt, sind wir uns darüber oft gar nicht so recht bewusst. Denn die Innovationen erschienen im jeweiligen Moment spektakulär, werden aber schnell selbstverständlich.
Bildungspraxis: Zum Beispiel?
Niels Pinkwart: Dass es für einen Menschen längst nicht mehr möglich ist, gegen ein gutes Schachprogramm zu gewinnen, erscheint uns heute völlig normal – in den Neunzigern waren die Duelle zwischen dem Schachweltmeister Garri Kasparow und dem Computer Deep Blue dagegen noch ein weltweites Medienthema.
Viele Menschen haben heute Geräte zu Hause, mit denen sie sprechen können und die ihnen in natürlicher Sprache antworten – als das auf den Markt kam, war es beeindruckend. Aktuell passiert dasselbe mit generativen KI-Anwendungen wie ChatGPT, die Dinge hervorbringen, die man vor wenigen Jahren für unvorstellbar hielt. Aber auch sie werden für uns schnell zur Normalität werden.
Bildungspraxis: Ist KI auch im Bildungsbereich schon Realität?
Niels Pinkwart: Ja, auch wenn wir da in Deutschland noch Nachholbedarf haben im Gegensatz zum Beispiel zu Nordamerika. Es gibt KI-gestützte adaptive tutorielle Lernsysteme, die Lernenden zum Beispiel automatisch Aufgaben zuweisen, die zu ihrem jeweiligen Lernstand passen oder ihnen Rückmeldungen zu Lösungen geben. All diese Angebote gibt es zunehmend auch im Berufsbildungsbereich. In naher Zukunft wird die Zahl von KI-basierten Angeboten dort stark steigen.
Bildungspraxis: Wie kann KI in der Berufsbildung helfen?
Niels Pinkwart: Zum Beispiel mit KI-basierten Systemen, die den immer heterogeneren Auszubildenden individuelle Inhalte und Lernpfade vermitteln. Manche tutoriellen Systeme arbeiten mit Predictive Analytics, um Hinweise darauf zu bekommen, wer zum Beispiel in Gefahr ist, die Ausbildung abzubrechen oder Prüfungen nicht zu bestehen.
Ähnliche Systeme können bei der Berufsorientierung oder der Auswahl von Weiterbildungsinhalten nützlich sein. Ein weiterer Anwendungsbereich ist die Analyse von Körperbewegungen: Dabei analysiert ein Programm per Video aufgezeichnete Bewegungen, gleicht sie mit einem Idealverlauf ab und gibt Hinweise zur Verbesserung. Das kann zum Beispiel im Sportbereich oder bei Mensch-Roboter-Interaktionen in der Industrie zum Einsatz kommen.
Bildungspraxis: Was bedeuten diese neuen Anwendungen für Lehrpersonen und Ausbildungskräfte?
Niels Pinkwart: Sie geben ihnen mehr Möglichkeiten für die Vermittlung von Inhalten und Kompetenzen und erleichtern die Binnendifferenzierung bei heterogenen Lerngruppen. Ein weiterer Vorteil zum Beispiel adaptiver tutorieller Lernsysteme ist die Effizienz: Der Einsatz solcher Systeme spart Zeit, wie wir aus Analysen wissen – allein schon, weil die Lernenden sich nur auf die Lernbereiche konzentrieren, die für sie auch relevant sind.
Bildungspraxis: Brauchen Lehrpersonen oder Ausbildende für die Nutzung solcher KI-Technologien bestimmte Kompetenzen?
Niels Pinkwart: Ja, die nötigen KI-Kompetenzen würde ich in drei Gruppen einteilen: erstens die Nutzungskompetenz – also die zielführende Verwendung von KI-Tools. Zweitens ist ein Grundverständnis davon sinnvoll, wie die Technologie funktioniert und was die Algorithmen da eigentlich tun. Und drittens braucht es eine Wirkungs- und Beurteilungskompetenz, also die Fähigkeit zu beurteilen, für welche Zwecke sich KI-Tools eignen und was ihre Limitationen sind.
Bildungspraxis: Viele KI-Anwendungen basieren auf großen Datenmengen. Ist Datenschutz ein Problem für KI in der Berufsbildung?
Niels Pinkwart: Nicht alle KI-Technologien brauchen Daten. Ein klassisches intelligentes tutorielles System, zum Beispiel zum Mathematiklernen, ist nicht unbedingt auf Nutzerdaten angewiesen. Es verfügt über von Experten gesammeltes, codiertes Wissen, das es mit einzelnen Nutzeraktionen in Verbindung bringt und es gibt darauf basierend Rückmeldungen. Dass solche Systeme aus Nutzerdaten lernen, ist eine zusätzliche Funktion. Diese Nutzerdaten können sensibel sein, und natürlich muss dabei auf Datenschutzvorgaben geachtet werden. Es wäre aber absurd, wenn man gerade im Bildungsbereich darauf verzichten würde, Lernanwendungen durch Nutzerdaten zu verbessern, während das gleichzeitig in anderen Lebensbereichen – vom Online-Shopping bis zum Streamingdienst – völlig gang und gäbe ist.
Bildungspraxis: Mit welchen KI-Funktionen können wir in Zukunft noch rechnen, wenn die Forschung den nächsten Quantensprung macht?
Niels Pinkwart: Ich glaube, irgendwann werden individuelle KI-basierte Lernbegleiter Normalität sein – ob in Form einer App auf dem Handy, eines Augmented Reality Schulbuchs oder sogar von Robotern. Die Interaktion mit unseren Bildungsmedien wird insgesamt vielfältiger werden. Das didaktische Setting, bei dem eine Lehrperson einer Lerngruppe vor Ort denselben Inhalt vermittelt, wird künftig noch mehr als bereits heute nur eine von vielen Möglichkeiten sein. Es wird auf jeden Fall spannend zu sehen, welche Aufgaben im Lernprozess wir an Technologie outsourcen werden, und welche wir bewusst den Menschen und ihrem sozialen Miteinander vorbehalten.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in: BILDUNGSPRAXIS – didacta Magazin für berufliche Bildung, Ausgabe 4/2023, S. 5-8, www.bildungspraxis.de
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